In Berührung sein mit dem Tabu

In den letzten Wochen war mein persönliches Erleben davon geprägt, dass ich endlich eine Entscheidung getroffen habe, vor welcher ich lange zurück geschreckt war: mein jüngster Sohn wurde bisher in Inklusion beschult. Vor einiger Zeit wurde mir bereits klar, dass dieser Weg nicht zur Entfaltung seiner Möglichkeiten führen wird. Trotzdem kämpfte ich weiter für Veränderungen in der schulischen Förderung und wollte meine Idee einer gelungenen Integration noch nicht aufgeben.
Erst durch die Ermutigung der Therapeutin meines Sohnes konnte ich die Möglichkeit eines Schulwechsels an eine Förderschule als Alternative in Erwägung ziehen. Bis zu diesem Zeitpunkt war diese Option ein Tabu für mich und damit verbunden, weggesperrt und in eine Schublade gepackt zu werden. Ich wollte meinem Sohn die Freiheit ermöglichen, trotz seiner Einschränkungen und seiner Andersartigkeit teilhabend an einem normalen Leben zu sein und ein vollwertiges Mitglied unserer Gesellschaft zu werden. Der Weg in die Sonderförderung war für mich bis dahin der Weg in die Abhängigkeit und in die Fremdbestimmung.

Für meinen Sohn stellte ich mich diesem Tabu und traf die Entscheidung, die Schule zu wechseln. Hierbei stellte ich fest, dass genau das, was ich bisher abgelehnt hatte, wovor ich so zurückschreckte, die Lösung war.

Die Erkenntnis war für mich, dass das „Hässliche“ das Wunder sein kann, wenn ich ihm eine Chance gebe. Somit rückte ich dem Teil meiner Selbst näher, mit welchem ich immer wieder bei meinem Umfeld anecke und vor welchem andere oftmals zurückschrecken und mich in der Folge ablehnen.

Plötzlich konnte ich begreifen, weshalb ich bisher so im Widerstand mit dieser Lösung war. Ein Teil meiner weiblichen Vorfahren wurzelt in der Tradition der Sinti und Roma. Ich trage dieses Erbe in mir und bin in meiner Andersartigkeit damit sichtbar. Immer wieder erlebe ich es, dass Menschen in meinem Umfeld fasziniert und ängstlich zugleich auf diesen Wesenszug reagieren. Bisher konnte ich diese Polarität in mir nicht lösen. Ich habe diesen Teil in mir selbst angenommen, doch die gelungene Integration in Begegnung mit meinem Umfeld wollte sich nicht einstellen.

Das Wunder, welches ich durch den Schulwechsel meines Sohnes erleben durfte, war das herzliche Willkommen meines Sohnes in der Gemeinschaft der Förderschule und die tiefe Entspannung, welche ich in ihm wahrnehmen und sehen konnte.
In dieser Teilhabe an der Erfahrung meines Sohnes erkannte ich, dass ich es niemals in mir selbst hätte lösen können. Es brauchte die Umarmung und den Halt einer Gemeinschaft von Menschen mit Andersartigkeit. Hierbei fühlte ich die Befreiung und die Integration meiner Verletzung in meinem Anders Sein, als ich diese Zuwendung und den Halt zulassen und annehmen konnte. Damit wurde es mir möglich, einzuwilligen. Das Alte löste sich in dieser Berührung auf. Mir begegnete an dieser Stelle die Liebe und das Licht in mir: Was für ein Geschenk!
Es ist nicht länger Teil meiner Geschichte, in der Dunkelheit und im Verstoß zu leben, wenn ich in meiner Andersartigkeit sichtbar bin und mich in dem dazu bekenne, eine Grenzgängerin zu sein.

Für jemand anderen ist es vielleicht ein Tabu, sich die eigene Hilflosigkeit einzugestehen und darin einzuwilligen, auf die Hilfe des Umfeldes angewiesen zu sein, um so zur Selbsthilfe zu gelangen. Oder es ist ein Tabu, die eigene Gefühlskälte anzuerkennen und darin einzuwilligen, Berührung von Außen zuzulassen, um die Nähe zu sich selbst wieder zu fühlen.
Oder es ist das eigene Drama und die damit verbundene innere Ohnmacht, welche sich tabu anfühlt. Hier braucht es die eigene Würdigung dieser Abhängigkeit und ein gefühlsstarkes Umfeld, welches das Drama mittragen kann, um so wieder zur Unabhängigkeit zu kommen.

Die Herausforderung liegt im Eingeständnis und Zugeständnis des eigenen Tabus. Die Akzeptanz folgt dann ganz natürlich aus der Selbstverständnis.

Damit überschreite ich die Grenze des Egos und willige in die Erfahrung von Enttäuschung ein. Ob diese für mich das langersehnte Wunder oder die befürchtete Katastrophe ist, ist nicht vorhersehbar.

Eines ist jedoch sicher: Dann bin ich bei mir, dann bin ich mittendrin, dann bin ich im Leben und dann liebe ich.

Ich möchte euch dazu ermutigen, die kommenden Feiertage zu nutzen, das Wagnis einzugehen, eine liebevolle Umarmung, tiefes Mitgefühl und ehrliche Unterstützung zuzulassen und anzunehmen und vielleicht dabei das Wunder der Integration zu erleben, wenn ihr euch in eurem Tabu berühren lasst.

Frohe Weihnachten und besinnliche Rauhnächte.

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